Alles hat seine Zeit: Roman


Autor: Ennio Flaiano
Verlag: Manesse
Identifikator: 978-3-717-52236-2
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Der Tod hat ein Frauengesicht

In Italien ist Ennio Flaiano längst bekannt. Jetzt ist sein großer Roman "Alles hat seine Zeit" auch hierzulande neu zu entdecken. Von Peter Henning

Ennio Flaiano, 1910 als Sohn eines Kaufmanns in Pescara geboren, war einer der wichtigsten Drehbuhautoren des italienischen Nachkriegsfilms. Die Liste der von ihm verfassten Filmdrehbücher und szenischen Entwürfe, mehr als 60 Titel in 30 Jahren, liest sich ihrem Umfang nach aus heutiger Sicht wie die gewaltige Erbschaft eines sprachbesessenen Autors, der zeitlebens bemüht war, die für ihn eines Tages anbrechende Stunde des Verstummens immer wieder um ein paar Zeilen hinauszuschieben. Unter dem Datum 10. Mai 1970 findet sich in seinem Tagebuch folgende Notiz:

"68 Tage sind vergangen und ich bin noch am Leben – Ein schöner Erfolg. Alles muss sich ändern!"

Flaiano war einer jener Autoren, die gegen Ende der vierziger Jahre der italienischen Filmkunst nachhaltig ihre neorealistischen Stempel aufdrückten. Am 20. November 1972 erlag er den Folgen seines zweiten Herzinfarkts; er, der kurz zuvor seinem Notizbuch noch anvertraut hatte: "Der Tod hat das Gesicht, das gewisse Frauen haben, die in der Bar am Automaten telefonieren. Und in einem gewissen Moment, ohne mit dem Sprechen aufzuhören, machen sie Dir ein Zeichen des Grüßens und der Überraschung."
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© Manesse Verlag

Hinterlassen hat Flaiano ein Werk von vielgestaltiger Größe: Erzählungen wie etwa die verfilmte Melampus, den Band Eine und eine Nacht, Fragmente, Aufzeichnungen und hellsichtige Aphorismen, allem voran aber seinen großen Abessinienroman Alles hat seine Zeit sowie sein berühmtes Diario Notturno, sein Nächtliches Tagebuch, das 1956 bei Bompiani erschienen war. Ein bittersüßes Buch, das seinerzeit einen gehörigen Rummel in Italiens literarischen Kreisen verursachte, und über das die Kritikerin Emma Giammattei rückblickend voller Bewunderung schrieb: "1956 war dieses Buch vielleicht zu schön, zu seltsam für uns."

Der Name Ennio Flaiano gewann ab 1947 neben seiner Bedeutung als gefeierter Romancier vor allem als gefragter Drehbuchautor an Wert. Regelmäßig strahlte sein Namen in großen Lettern den Kinobesuchern von der Leinwand entgegen, wenn Arbeiten von Rossellini, Mario Soldati, Michelangelo Antonioni oder Federico Fellini auf dem Spielplan standen. In einer autobiografischen Notiz berichtet Flaiano nicht ohne Verbitterung dazu im Rückblick: "Ich habe mit Fellini an acht seiner Filme zusammengearbeitet, ich habe andere Filmgeschichten geschrieben, für andere Regisseure. Am Ende alles verlorene Zeit, Ideen und Blätter in die Winde verstreut."

Müde Resignationen eines Schriftstellers, der aufgehört hat, an die erlösende Kraft seiner Worte zu glauben? Vielleicht. Tatsächlich aber gibt es bis in das Jahr 1965 hinein kaum einen Film von Fellini, an dem Flaiano nicht als Drehbuchautor mitgewirkt hätte. Zu seinen Arbeiten zählen der Film La Strada mit Giulietta Massina und Antony Quinn ebenso wie Fellinis Hommage La Dolce Vita an das Rom der beginnenden Sechzigerjahre mit Marcello Mastroianni und Anita Ekberg.

Im Jahr 1947 war Flaianos einziger Roman unter dem Titel Tempo di uccidere (Zeit zum Töten) bei Longanesi erschienen; ein Buch, das seinen Autor über Nacht in Italien berühmt machte und ihm den ersten "Premio Strega", Italiens höchste literarische Auszeichnung, einbrachte. Der Roman – 1953 bei Claassen unter dem Titel Frevel in Äthiopien erschienen –, ist ein sonderbares, ein außergewöhnliches Buch. Der Roman, der seit 1977 in einer deutschen Neuübersetzung beim Zürcher Manesse Verlag unter dem Titel Alles hat seine Zeit vorliegt und soeben mit einem Nachwort von Elke Heidenreich wieder erschienen ist, erzählt die Geschichte eines italienischen Oberleutnants im Abessinienkrieg 1935.

Geschildert wird die ungeheure Geschichte seines Verbrechens und seiner Sühne. Der namenlose Ich-Erzähler trifft, vom seinem Weg zum Zahnarzt abgekommen, auf eine badende junge Frau, berührt und liebt das geheimnisvolle Wesen, bis ihn ein lächerlicher Zufall zum Mörder der Eingeborenen werden lässt. Was dann einsetzt, ist die Odyssee eines Mannes, der fortan nach den Gesetzen der Flucht zu leben und überleben hat. Er wird zum Dieb und beinahe zum Mörder eines Vorgesetzten, den er beraubt, um sich zur nächsten Hafenstadt durchzuschlagen und eine Schiffspassage nach Italien kaufen zu können.

Aus diesem Handlungsgerüst hat Flaiano eine Geschichte geformt, die neben den vordergründigen Ereignissen bestimmt ist durch Züge der Bedrückung, des menschlichen Dahingeworfenseins und des prozesshaften Handelns: Circulus vitiosus unter äthiopischer Sonne – ein literarischer Schritt heraus aus der Gewohnheit des Bekannten, hinein in eine dunkle, geheimnisvoll lockende Welt der Abenteuer und der Verlorenheit.
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Dem namenlosen Anti-Helden glückt schließlich die Rückkehr in die alte Welt – in die Heimat Italien. Alptraum und Irrungen scheinen gebannt, und doch: was dem Soldaten bleibt – und damit endet dieser großartige Roman – ist "jener giftige Hauch, jene unerklärliche, unheimliche und geheimnisvolle Geruch nach lange verwelkten Blumen", auf dessen Spur die Gestalt dieses namenlosen Odysseus eine Ewigkeit lang unter äthiopischer Sonne zu reisen hatte.

Ennio Flaiano ist trotz diverser Versuche, ihn hierzulande zu etablieren, noch immer wenig bekannt und weiterhin zu entdecken: ein Autor für Autoren – von einem Peter Bichsel ebenso innig verehrt wie von einer Elke Heidenreich. In seiner Heimat Italien dagegen gilt der einst traurige Spötter längst als feststehende Größe: erfolgreich, geliebt und viel gelesen. Erfolg, jene Chimäre, der Flaiano kritisch gegenüberstand wie kaum ein Zweiter. Denn wie lautete doch bereits 1947 seine illusionslos Formel: "Jeder Erfolg ist im Grunde ein Missverständnis."

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